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AVIVA-BERLIN.de 9/19/5784 - Beitrag vom 01.03.2003


Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden Deutschlands und der Bundesregierung
Natasa Konopitzky

Einerseits als historisches Ereignis gefeiert, birgt die Unterzeichnung des Staatsvertrages andererseits großes innerjüdisches Konfliktpotential in sich ...




Am 27. Januar 2003, dem Holocaustgedenktag, haben Gerhard Schröder und Paul Spiegel den Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden unterschrieben. Somit wurden die Pflege des deutsch-jüdischen Erbes und der Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft zu Aufgaben von nationalem Interesse.

Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrates, feiert den Staatsvertrag als "historisches Ereignis". Er sieht ihn als Anerkennung eines aktiven jüdischen Lebens seitens der Bundesregierung und als symbolischen Vertrauensakt der jüdischen Gemeinde gegenüber Deutschland. Statt der bisherigen 1 Million Euro gibt es nun 3 Millionen jährlich. Eine relativ bescheidene Summe für die marode jüdische Haushaltskasse, wenn frau bedenkt, dass die Gemeinden durch die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aus allen Nähten platzen. In den vergangenen 13 Jahren sind 70.000 Juden nach Deutschland gekommen, was die Mitgliederzahl auf 100.000 explodieren ließ. Neben der schier unbewältigbar scheinenden Integration der ost-europäischen Juden belasten zusätzlich massive interne Auseinandersetzungen die Gemeinden.

Dass der Staatsvertrag ein moral-politischer Gewinn für die Juden in Deutschland ist, steht außer Frage, doch weist er einen Schönheitsfehler auf. Denn abgeschlossen wurde der Vertrag lediglich mit dem orthodox orientierten Zentralrat der Juden.
Die "Union Progressiver Juden", welche das liberale Judentum repräsentiert, wurde nicht mit einbezogen. Diese beiden Richtungen unterscheiden sich durch die Auslegung der Tora. Während das orthodoxe Judentum am göttlichen Status der Tora festhält, sehen die Liberalen sie als menschlichen Ausdruck einer religiösen Erfahrung und sind für Einflüsse und Erfordernisse der heutigen Zeit, wie z.B. die Gleichberechtigung der Frauen, offen.

Das liberale Reformjudentum, Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland begründet, war bis 1933 hierzulande die stärkste jüdische Glaubensströmung.
Nach 1945 war das Reformjudentum ausgelöscht. Die überwiegend aus Osteuropa stammenden Überlebenden der Konzentrationslager waren religiös fast ausschließlich der orthodoxen Tradition verpflichtet und gründeten in Deutschland eine jüdische Einheitsgemeinde, die wenig Platz für religiösen Pluralismus ließ. Jetzt kehrt das Reformjudentum über den Umweg aus Israel und Amerika zurück und erfreut sich eines regen Zulaufs.

Der Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland, Jan Mühlstein, kritisiert den Alleinvertretungsanspruch des Zentralrates in Deutschland fordert eine Integration der liberalen Juden. Auch der Direktor der "Weltunion für Progressives Judentum" Rabbi Regev in Israel plädiert an den Zentralrat und an die Einheitsgemeinden, die Liberalen in allen Fragen gleich zu behandeln. Er wies darauf hin, dass seine Organisation der größte religiöse jüdische Verband sei, während die Orthodoxen weltweit eine Minderheit darstellen. Regev nennt den Staatsvertrag einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit und betont, dass die "progressive Bewegung" zur Not auch den Gang zu den Gerichten nicht scheuen und ihre Mitglieder in aller Welt aktivieren wird, damit die liberale Strömung im deutschen Judentum ihren angestammten Platz wieder einnehmen könne.

Es stellt sich nun die Frage, ob die Einheitsgemeinde Deutschlands der pluralistischen Herausforderung gerecht werden und die Wogen des jüdischen Familienstreites glätten kann. Schafft sie es nicht, hat der Staatsvertrag einen Stein ins Rollen gebracht, der zur Spaltung der jüdischen Gemeinden führen könnte...


Auszug aus dem Staatsvertrag

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundeskanzler, und dem Zentralrat der Juden in Deutschland, vertreten durch den Präsidenten und die Vizepräsidenten

Präambel
Im Bewusstsein der besonderen geschichtlichen Verantwortung des deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland, angesichts des unermesslichen Leides, das die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 erdulden musste, geleitet von dem Wunsch, den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und das freundschaftliche Verhältnis zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen und zu vertiefen, schließt die Bundesrepublik Deutschland mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland folgenden Vertrag:
Artikel 1: Zusammenwirken
Die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden in Deutschland, Körperschaft des öffentlichen Rechts, der nach seinem Selbstverständnis für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen ist, vereinbaren eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Bereichen, die die gemeinsamen Interessen berühren und in der Zuständigkeit der Bundesregierung liegen. Die Bundesregierung wird zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland beitragen. Dazu wird sie den Zentralrat der Juden in Deutschland bei der Erfüllung seiner überregionalen Aufgaben sowie den Kosten seiner Verwaltung finanziell unterstützen.
Artikel 2: Staatsleistung

(1) Zu den in Artikel 1 genannten Zwecken zahlt die Bundesrepublik Deutschland an den Zentralrat der Juden in Deutschland jährlich einen Betrag von 3.000.000 Euro, beginnend - unabhängig vom Inkrafttreten des Vertrages - mit dem Haushaltsjahr 2003.
(2) Die Vertragsschließenden werden sich nach Ablauf von jeweils fünf Jahren - beginnend im Jahr 2008 - hinsichtlich einer Anpassung der Leistung nach Absatz 1 verständigen. Sie sind sich darüber einig, dass die Entwicklung der Zahl der vom Zentralrat repräsentierten Gemeindemitglieder ein wichtiges Kriterium bei der Berechnung der Leistungsanpassung darstellt.
Artikel 3: Zahlungsmodalitäten
Die Leistung wird 2003 in einer Summe, ab 2004 mit je einem Viertel des Jahresbeitrages jeweils zum 15. Februar, 15. Mai, 15. August und 15. November gezahlt.
Artikel 4: Prüfung der Verwendung der Mittel
Der Zentralrat der Juden in Deutschland weist die Verwendung der Zahlung jährlich durch eine von einem unabhängigen vereidigten Wirtschaftsprüfer geprüfte Rechnung nach. Die Rechnung und der Bericht des Wirtschaftsprüfers sind der Bundesregierung vorzulegen.
Artikel 5: Weitere Einrichtungen des Zentralrats
(1) Der Bund wird darüber hinaus auch zukünftig die bisher geförderten Einrichtungen des Zentralrats der Juden in Deutschland - Hochschule für jüdische Studien und Zentralarchiv zur Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte, beide mit Sitz in Heidelberg - auf freiwilliger Basis unterstützen.
(2) Die Förderung der Hochschule für jüdische Studien erfolgt derzeit mit einem Bundesanteil von 30 Prozent im Einvernehmen mit den Ländern.
(3) Das Zentralarchiv wird vom Bund institutionell gefördert auf der Grundlage der vorgelegten Wirtschaftspläne.
(4) In beiden Fällen handelt es sich um vom Bund jährlich festzulegende Zuwendungen im Sinne des Bundeshaushaltsrechts nach den Vorgaben des Haushaltsgesetzgebers.
Artikel 6: Ausschluss weiterer Leistungen
(1) Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird über die in Artikel 2 und 5 gewährten Leistungen hinaus keine weiteren finanziellen Forderungen an die Bundesrepublik Deutschland herantragen.
(2) Auf besonderer Grundlage mögliche oder bestehende Leistungen an die jüdische Gemeinschaft auf Bundesebene bleiben durch diesen Vertrag unberührt, insbesondere staatliche Leistungen für die Integration jüdischer Zuwanderer aus den GUS-Staaten und für die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe auf der Grundlage der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern vom 21. Juni 1957.
Artikel 7: Vertragsanpassung
Die Vertragsschließenden sind sich bewusst, dass die Festlegung der finanziellen Leistungen dieses Vertrages auf der Grundlage der derzeitigen Verhältnisse erfolgt. Bei einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse werden sich die Vertragsschließenden um eine angemessene Anpassung bemühen.
Artikel 8: Freundschaftsklausel
Die Vertragsschließenden werden etwa in Zukunft auftretende Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung dieses Vertrages in freundschaftlicher Weise beseitigen.
Artikel 9: Zustimmung des Deutschen Bundestages, Inkrafttreten
(1) Der Vertrag bedarf der Zustimmung des Deutschen Bundestages durch ein Bundesgesetz.
(2) Er tritt am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes, mit dem diesem Vertrag zugestimmt wird, in Kraft.


Jüdisches Leben

Beitrag vom 01.03.2003

AVIVA-Redaktion